Einleben. Sich an eine neue Umgebung gewöhnen, seine Lebensgewohnheiten an sie anpassen, heimisch werden. Metaphorisch kann man sagen, dass mich Südamerika von Anfang an mit offenen Armen empfangen hat. Es fiel mir nicht schwer, mich hier wohl zu fühlen. Mercedes ist ein Stück Heimat geworden, und das zu merken, ist einfach schön. Inzwischen hält man es leider tagsüber hitzetechnisch nicht mehr auf der Dachterrasse aus (da haben meine Kollegen nicht übertrieben), deswegen sitze ich heute nicht dort, sondern in unserem Garten und genieße den Schatten der Bäume. Ja, ich kann von mir sagen, dass ich mich an mein südamerikanisches Leben gewöhnt habe, mich hier eingelebt habe.
Uruguay, woran denkt man eigentlich, wenn man von diesem Land hört? Ich muss sagen, viele Assoziationen hatte ich vor diesem Jahr nicht. Ein kleines Land zwischen den Riesen Argentinien und Brasilien, Mujica, der Präsident, der sich so für die Armen eingesetzt hat, Mate trinken, Tango, der Rio de la Plata, Montevideo, der ständige Konkurrenzkampf mit Argentinien.
Was mir hier wirklich auffällt, ist die Entspanntheit, mit der so viele Dinge angegangen werden. Ich sage nur „tranqui, tranqui“ (Abkürzung von „tranquilo“= ruhig), was man hier an allen Ecken hört. Es wird in den Tag hineingelebt, in aller Ruhe vor den Häusern auf Klappstühlen Mate getrunken (allein dieses Bild ist schon Ruhe und Zufriedenheit pur) und gibt es mal ein Problem, so wird keinen Stress gemacht, sondern ruhig eine Lösung gesucht. Ein bisschen habe ich mir diese Ruhe schon angeeignet und möchte mir das auch beibehalten. Allerdings merke ich auch, wie sich an einigen Stellen meine deutsche Herkunft meldet, vor allem wenn es um Pünktlichkeit oder Ordnung geht oder aber darum, dass bei leichtem Nieselregen diverse Veranstaltungen abgesagt werden. Was ich sonst sehr genieße, ist die Offenheit und Freundlichkeit der Uruguayos. Auch wenn das „Hola, cómo estás?“ eher oberflächlich ist, merkt man doch bei den meisten, dass sie wirklich Interesse haben. Das glückliche Lächeln des Gemüsehändlers, wenn du mal wieder vorbeikommst, oder des Busfahrers, wenn du mal wieder Bus fährst, sind alles Dinge, an die ich mich lange erinnern werde. Was fester Bestandteil meines Lebens geworden ist, ist der Mate. Unter der Woche trinke ich fast jeden Tag auf Arbeit Mate, am Wochenende mit meiner Mitfreiwilligen. Es ist eine wirklich schöne Alternative zu Kaffee und eine ganz eigene Kultur.
Die Zeit hier vergeht ganz schön schnell, irgendwie fast zu schnell, finde ich. Ehrlich gesagt fällt es mir schwer zu glauben, dass ich inzwischen schon ein halbes Jahr hier in Uruguay bin, und nun schon über die Hälfte meines Auslandjahres herum ist. Wir befinden uns inzwischen seit über drei Monaten mitten im südamerikanischen Sommer mit täglich über 30 Grad (die sich immer wie 5-10 mehr anfühlen, weil die Sonne einfach so stark scheint), sodass man sich regelmäßig mit Wasser übergießen oder im Fluss schwimmen gehen sollte, um nicht zu zerfließen. Bei mir im Zimmer ist es an manchen Tagen schwer auszuhalten, trotz des kleinen Ventilators, weil ich nur ein Fenster habe, was nach Norden geht, wo demnach den ganzen Tag die Sonne hineinscheint. Ich habe mir angewöhnt, immer öfter auf der Terrasse zu schlafen (unter meinem Moskitonetz), weil es dort wirklich angenehm kühl ist. Allerdings mache ich das nur, wenn ich früh aufstehen muss. Ausschlafen wird durch die Sonne, die ab ungefähr halb 10 gnadenlos auf die Terrasse scheint, eindeutig erschwert.
Inzwischen gehört einiges der Vergangenheit an, was am Anfang in unerreichbarer Ferne schien. Die Weihnachtszeit, die, als eine der doch recht wenigen Gemeinsamkeiten mit der in Deutschland, ziemlich vollgestopft mit Aktivitäten war: ein Weihnachtsmarkt mit der Jugendgruppe, Plätzchenbacken an zahlreichen Nachmittagen (darauf wollten wir nicht verzichten), einige zusätzliche Veranstaltungen, wie das Abschlussessen mit meinen Kollegen oder die Tanzvorstellung der Kinder im Theater. Diese Zeit war in der Hinsicht sehr schön, dass ich viel mehr mit meinen Kollegen gemacht habe, und so der Kontakt intensiver und persönlicher geworden ist. Immer mehr bekomme ich das Gefühl, ein gleichwertiges Mitglied zu sein. Dann Weihnachten selbst, was zugegebenermaßen recht unweihnachtlich war. Es war eine Erfahrung wert, aber ich muss sagen, dass ich das ruhige Weihnachten mit der Familie dem Feuerwerk auf den Straßen eindeutig vorziehe. Dann mein Urlaub in Patagonien und an der Ostküste Uruguays im Januar, den ich wirklich sehr genossen habe und wo ich in aller Ruhe wieder auftanken konnte. Das Zwischenseminar, wo wir viel Zeit zum Reflektieren des ersten halben Jahres hatten, aber auch zum Ziele formulieren für das zweite halbe Jahr. Trotz dem ich von dem zweiten Teil nicht alles mitbekommen konnte, da ich krank geworden bin, habe ich die Zeit auch zum Nachdenken genutzt.
Ein großes Anliegen ist es mir, noch mehr Eigenes auf Arbeit zu machen. Tatsache ist, dass ich in einem sehr strukturierten Projekt bin, wo schon viel vorgegeben ist. So gibt es jeden Tag ein Taller für die Kinder und ich habe bis jetzt nicht die Möglichkeit, ein eigenes Taller zu leiten. Es kann sein, dass sich das jetzt ab Mitte März ändert, weil der Musik-Tallerist nach Kolumbien geht und so dieses Taller erstmal weg fällt. Meine Chefin versucht, ein Sport-Taller zu organisieren, weil das eine Sache ist, die im Angebot des Clubs noch fehlt, und es toll wäre, wenn die Kinder sich einmal in der Woche richtig auspowern könnten. Angenommen, das sollte nicht klappen, könnte es ein Tag werden, an dem ich als Freiwillige etwas alleine auf die Beine stellen könnte.
Aber mal abgesehen von einem eigenen Taller denke ich, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, noch mehr Eigenes machen zu können, vor allem Kreatives. Im Club ist es ja so, dass fast jeden Tag kreativ gearbeitet wird. Am Donnerstag den ganzen Tag, an den anderen Tagen parallel zu den Talleristen, die ja meistens immer nur mit kleinen Gruppen von Kindern nacheinander arbeiten. Bis jetzt war es eigentlich immer so, dass ich auf Arbeit kam, und dort gefragt habe, was wir denn heute machen und wo ich helfen kann. So konnte ich nur spontan Ideen äußern, aber war nicht wirklich in die Planung mit einbezogen. In dieser Hinsicht hat das zweite halbe Jahr um einiges besser begonnen. In den ersten Tagen habe ich mit einer Kollegin vom Vormittag Ideen ausgetauscht und gesammelt, was wir denn alles machen könnten. In dem Moment habe ich mich ziemlich gut gefühlt, einfach weil ich von Anfang an mit einbezogen wurde (bzw. durch die Frage, ob ich mir mit ihr zusammen was überlegen kann, mich selbst mit einbeziehen konnte). Eine andere Idee ist, dass ich eine Liste mit kreativen Ideen oder Aktivitäten anfange, die ich mit den Kindern an Regentagen machen kann. Denn an Regentagen ist es so, dass nur sehr wenige Kinder kommen, und sie meistens vor den Fernseher gesetzt werden oder einen Film schauen. Und das finde ich schade, denn nur weil wenige Kinder kommen, heißt das doch nicht, dass es sich nicht lohnt, mit ihnen Aktivitäten zu machen.
Gerade kommen noch nicht wieder alle Kinder in den Club, weil die Schule noch nicht angefangen hat. So arbeiten wir entweder nur vormittags oder nachmittags (was angesichts der Hitze wirklich nicht schlecht ist) und auch die Talleres haben noch nicht begonnen. Entsprechend kann man auch etwas individueller und spontaner arbeiten, was ich sehr schön finde. Zum Beispiel habe ich schon öfter mit einer kleinen Gruppe ein paar deutsche Spiele gespielt, Halli Galli oder UNO, die eine Vorfreiwillige von mir mal mit in den Club gebracht hatte, oder aber eine große Runde Tischtennis. Das macht ihnen wirklich Spaß, und ist gleichzeitig für mich eine gute Übung, alleine verantwortlich zu sein und mich gegen die redegewandten Kinder durchzusetzen.
Auch die Gemeindearbeit hat wieder sehr gut begonnen. Mit den Jugendlichen haben wir angefangen, den Gemeindegarten zu entrümpeln und die Beete zu jäten, sodass man auch mal wieder etwas mehr anpflanzen kann. Die große Wiese wollen wir wieder als Volleyballfeld nutzen.
Die Samstagabende mit den Jugendlichen sind für mich etwas geworden, worauf ich mich wirklich freue, denn es ist nicht mehr wie am Anfang so, dass man daneben saß und nichts verstanden hat. Trotz dem mein Spanisch noch lange nicht perfekt ist (man stellt sich so schön vor, dass man ruck zuck fließend sprechen kann, aber in der Realität ist es doch anders; gerade weil wir Zuhause Deutsch sprechen und das nun einmal der meiste Anteil unseres Tages ist), kann ich nun aktiv an den Gesprächen teilhaben. Dazu kommt, dass ich die Jugendlichen in mein Herz geschlossen habe, und es genieße, sie immer mehr kennenzulernen, und so auch außerhalb der Samstage mal etwas zusammen zu machen. Letzte Woche haben wir zum Beispiel einen ganzen Tag zusammen verbracht, als eine Art Sommercamp, und sind in die Thermen von Salto gefahren. Ich finde es beeindruckend, was die Jugendlichen teilweise schon in ihrem Leben erlebt haben. Vor allem die Lebensgeschichte des einen Jugendlichen hat mich sehr bewegt (ich glaube, es war einer der bewegendsten Momente bis jetzt), als er sie uns mal nach einem Jugendabend matetrinkend an der Rambla erzählt hat. Nachdem er sich als kleiner Junge um die ganze Familie gekümmert hat, hat er sich praktisch aus dem Nichts ein eigenes abgesichertes Leben aufgebaut. Trotz dem er so viel Schreckliches erfahren hat, hat er eine wunderbare optimistische Lebenseinstellung- ich finde das einfach nur bewundernswert und es regt zum Nachdenken an.
Die Kinderbibelstunde hat noch nicht wieder begonnen (erst, wenn die Schule wieder losgeht), aber wir werden nun endlich unsere Idee umsetzen, mit den Kindern Lieder zu singen. Bei einer großen Aufräumaktion des Salons haben wir einige Kinderliederhefte gefunden, die sich dazu wunderbar verwenden lassen. So haben wir als Freiwillige auch dort eine kleine Aufgabe und darauf freue ich mich schon.
Das Liederbegleiten auf dem Harmonium im Gottesdienst macht mir nach wie vor Spaß, ich finde die Harmonien und Rhythmen der Kirchenlieder hier einfach so schön. Mit dem Gottesdienst selber werde ich mich glaube ich nicht mehr wirklich anfreunden. Meine Mitfreiwillige und ich sind uns darüber einig, dass man die Predigt um einiges interessanter und auch inhaltsreicher gestalten könnte. Aber das liegt nun einmal nicht in unserem Verantwortungsbereich. Das Pfarrerehepaar wohnt inzwischen in Montevideo. Der Pastor pendelt für die Aufgaben als Gemeindepfarrer hier immer hin und her, kommt Mittwochabend nach Mercedes und fährt sonntags nach dem Gottesdienst wieder nach Montevideo.
Nach unserem Urlaub im Januar haben wir endlich mit unserem lang geplanten Deutschkurs angefangen. Zwei Jugendliche der Jugendgruppe wollen sich dafür bewerben, im nächsten Jahr für einen Freiwilligendienst nach Deutschland zu gehen. So wurden wir gefragt, ob wir nicht ein bisschen Deutsch unterrichten könnten. Und wenn wir schon einmal Deutsch unterrichten, warum dann nicht für alle, die es interessiert? So ist es nun eine bunte Mischung aus mehreren Jugendlichen der Gemeinde, unserer Verantwortlichen und ihrer Familie, Arbeitskollegen von mir und auch spontan Dazugekommenen, die den Aufruf im Radio gehört oder unseren Aufsteller vor der Tür gesehen haben. Wir treffen uns jede Woche einen Abend bei uns in der Gemeinde. Der Deutschkurs ist eine Sache, die mir wirklich gefällt. Es ist sowohl unser eigenes Projekt als auch macht das Unterrichten an sich Spaß. Gleichzeitig sind wir dabei, unsere Freizeit ein bisschen mehr zu füllen. Denn, außerhalb der Arbeit noch mehr zu machen, war auch etwas, das ich mir vorgenommen habe. Wir haben zum Beispiel auch angefangen, immer mal zu einer Murga (eine Art Protestgesang, der Bestandteil der Kultur Uruguays ist) zu gehen, und haben den mercedarischen Karneval miterlebt. Und ab nächste Woche werden wir nun endlich beginnen, die Sportangebote von Mercedes zu nutzen, denn wir fangen bei dem Tanzlehrer, der auch zu uns in den Club kommt, mit Tanzen an.
Liebe Grüße aus dem sommerlichen Mercedes!
Un abrazo, Antonia